Gesundheitliche Folgen des Fernunterrichts
Die Schule ist nicht nur Lernort, sondern auch Lebensraum
OHG-Schulsozialarbeiterin Carolin Schulz berichtet über psychische Probleme nach einem halben Jahr Homeschooling
Oberstufenschüler*innen bald fast vollständig geimpft
Gehst du gerne in die Schule? Diese „Sonntagsfrage“ wird derzeit auch von pubertierenden Jugendlichen zumeist mit „Ja“ beantwortet. Die endlosen ermüdenden und einsamen Wochen mit Fernunterricht stecken Schülerinnen und Schülern noch so sehr in den Knochen, dass sich selbst manch aufmüpfiger Flegel seit den Pfingstferien auf die Schule freut wie ein Erstklässler.
Ein Blick auf den Kalender zeigt, welch hohen Preis Familien mit schulpflichtigen Kindern für die Pandemiebekämpfung gezahlt haben:
Im Schuljahr 2020/2021 fand am Otto-Hahn-Gymnasium mit Realschule für Mittelstufenschüler von Weihnachten bis Pfingsten 19 Wochen lang ausschließlich internetbasierter Fernunterricht statt. 14 Wochen entfielen wie immer auf Schulferien und Feiertage. Nur 15 Wochen gab bzw. gibt es für alle Klassen regulären Schulunterricht. Privilegiert waren einzig die Abschlussklassen mit nur 2 Monaten Fernunterricht.
Gesamtlehrerkonferenz in der Sporthalle
Im Juli konnte erstmals seit November 2020 am OHG mit RS wieder eine Gesamtlehrerkonferenz als Präsenzveranstaltung stattfinden. Aus hygienischen Gründen wurde die Sporthalle genutzt. Ein Referent war per Videokonferenz zugeschaltet, was inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Ausführlich berichtete die bei der Caritas angestellte Schulsozialarbeiterin Carolin Schulz sowie Beratungslehrerin Cornelia Emmler von den vielfältigen Problemen, die nun gehäuft in Einzelsprechstunden mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern vertraulich mitgeteilt wurden. Carolin Schulz betonte vor dem versammelten Kollegium, dass sich bei auffällig vielen Kindern und Jugendlichen im Homeschooling psychische Probleme gravierend verschärft haben oder auch erstmals aufgetreten sind. Diese reichen von Schlafstörungen über depressive Verstimmung und Selbstverletzungen bis hin zu massiven Essstörungen mit Klinikeinweisung.
Konkret benannte Carolin Schulz folgende typischen Problemfelder, die seit März 2020 verstärkt auftraten:
„Für viele Schüler*innen war es schwierig, sich selbst zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. „Aufgabenberge“ wuchsen an, so dass sie nicht mehr erledigt und auch nicht mehr aufgeholt werden konnten.
Besonders in persönlichen Problemfächern fanden es Manche schwierig, sich selbständig das Wissen anzueignen. Obwohl es immer möglich war, die Lehrer*innen in den Videokonferenzen oder Chats zu fragen, machten das einige Schüler*innen nicht, weil ihnen die „direkte“ Ansprache fehlte.
Oft war ein gestörter Tag-/Nachtrhythmus zu beobachten. Viele Jugendliche blieben bis spät in die Nacht wach und konnten dann vormittags nicht dem Fernunterricht folgen. Insbesondere die Mediennutzung ist in dieser Zeit sehr stark angestiegen, z.B. Onlinespiele, TikTok, YouTube, Videochats u. a..
Bei manchen Schüler*innen waren auch depressive Verstimmungen zu erkennen. Dies zeigte sich durch Unlust, alleine etwas zu unternehmen, weil die Kontakte zu Gleichaltrigen stark eingeschränkt waren. Stattdessen gab es die Neigung, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Vereinzelt entstanden sogar suizidale Gedanken.
Nicht nur psychisch labile jungen Menschen, auch bisher lebensfrohe Naturen leiden neuerdings auffällig häufig unter den verschiedensten tiefsitzenden Ängsten. Angst vor dem Schulbeginn oder den Konsequenzen, die auf unerledigte Aufgaben vielleicht folgen bis hin zu der Angst vor Menschenansammlungen oder davor, in die Stadt zu gehen. Die Freude darüber, seine Klassenkameraden endlich wieder zu sehen, ist oft getrübt von der Befürchtung, nicht „cool“ genug zu erscheinen oder angesichts erkennbarer Gewichtszunahme gehänselt zu werden.
Auch Eltern, die normalerweise keinerlei Unterstützung bei der Kindererziehung benötigen, berichten davon, dass viele der jüngeren Kinder körperlich völlig unausgelastet waren und dadurch auffällig im Verhalten geworden sind. Dies führte verbreitet zu Schlafstörungen, Gereiztheit, Weinen, Rückschritten in der Entwicklung. Bei älteren Kindern fehlte oft der entwicklungsfördernde Raum für die allmähliche Abnabelung von den Eltern.
Geregelter Schulbetrieb mit sozialer Komponente fördert psychische Gesundheit
Schulleiter Andreas Goldschmidt betonte bei der Gesamtlehrerkonferenz, dass alle Lehrkräfte nun eine doppelte Verantwortung tragen: Einerseits ist der Präsenzunterricht nach Plan sehr wichtig, um dem Leben der Heranwachsenden eine Struktur zu verleihen und die Freude an der eigenen Leistung anzuregen. Andererseits müssen die Klassen- und Fachlehrer die Leistungsmessung vor den Zeugnissen im Einzelfall hintenanstellen, um jedes Kind und jeden Jugendlichen in der Schulgemeinschaft sozial aufzufangen. Die Schulsozialarbeiterin Carolin Schulz und die Beratungslehrerin Cornelia Emmler könnten dabei die Fachlehrer in unverzichtbarer Weise unterstützen. Im Übrigen sei das vielgepriesene Bildungswesen in Finnland auch deswegen so erfolgreich, weil den Fachlehrern an jeder Schule mehrere Fachkräfte für die sozialen Belange zur Seite stünden. Lehrkräfte haben so mehr Raum für qualitätvollen Klassenunterricht und sind weniger für individuelle Betreuung und das Stopfen von „Lernlücken“ zuständig. Diese habe es ohnehin auch vor Corona schon immer gegeben und müssten nicht den Bildungserfolg infrage stellen.
Hohe Impfquote bei Erwachsenen kann Schulschließungen verhindern
Für das kommende Schuljahr bleibt nur zu hoffen, dass die Impfquote im Herbst so hoch ist, dass eine erneute komplette Schulschließung auf jeden Fall und auch ein Wechselunterricht wenn irgend möglich vermieden wird. Alle Impfberechtigten, die bisher noch nicht geimpft sind, tragen somit eine große Mitverantwortung für die körperliche und geistige Gesundheit der schulpflichtigen Generation. Hier ist das Verhalten der Oberstufenschüler*innen als vorbildlich hervorzuheben, von denen bis Mitte Juli bereits mehr als die Hälfte zumindest einmal geimpft ist. Die Kursstufe, die mit nur zwei Monaten Fernunterricht in einer privilegierten Situation war, leistet somit verantwortungsbewusst ihren Beitrag zum persönlichen Schutz und gleichzeitig zur Sicherstellung des Unterrichts für ihre jüngeren Mitschüler.
Text und Bilder: Hartmut Janke (Pressebeauftragter OHG/RS)
Bild 1: Schulsozialarbeiterin Carolin Schulz (stehend) und Beratungslehrerin Cornelia Emmler (links) berichten in der Gesamtlehrerkonferenz von den teilweise besorgniserregenden Auswirkungen des 6-monatigen Homeschoolings auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen.
Bild 2: Schulleiter Andreas Goldschmidt übergibt das Wort und das Mikrofon an seinen Stellvertreter Christoph Grässle, um die Fragen zu einem per Videokonferenz zugeschalteten Vortrag in der Gesamtlehrerkonferenz zu moderieren, die erstmals in der Sporthalle stattfand.